Die eigene Verantwortung wiegt 150 Zeichen

Ob die Grünen mit dem Framing [schuld] am “Sideletter” ist [Sebastian Kurz] Erfolg haben? Ein Zweifel…

GRUENE-Comeback-sauberer-PolitikEs sind diese beiden Plakate aus der Vergangenheit, die heute so wehtun: “#COMEBACK SAUBERE POLITIK” und “Wen würde der Anstand wählen”, dazu gibt es zahllose, die mit dem Topos “saubere Politik” spielen. Das war einmal. Die Schlagzeilen heute:

Grüner Ärger über Sideletter-Leak
Grüner Ärger über Geheimabsprachen der Parteispitze mit der ÖVP

Die Grünen – also die mit Transparenz und Anstand – haben “geheime” jedenfalls nicht-öffentliche, jedenfalls GRUENE-Wen-wuerde-der-Anstand-waehlenintransparente Absprachen getroffen. Mit der ÖVP, neben dem offiziellen Koalitionspapier. Ist das normal? Im Sinne von “machen das die Anderen auch”? Ja. Im Sinne von “selbstverständlich, dass die Grünen sowas machen”? Bisher dachte man, nein!

Sind Grüne bessere Menschen?

Warum eigentlich nicht? Sind Grüne bessere Menschen? Wohl nicht, aber sie hatten bei der vergangenen Wahl im September 2019 einen Spitzenkandidaten und später einen Verhandlungsführer, den heutigen Vizekanzler Werner Kogler, der bis vor dem letzten Jänner-Wochenende 2022 zu 100 Prozent als Person für eben diese geforderte Transparenz, eben diese geforderte Sauberkeit gestanden hatte. Aber das war eben im Herbst 2019.

Die offizielle Rekation eben jenes Werner Kogler heute Anfang 2022: “Nicht öffentliche Sideletter und Nebenvereinbarungen sollen der Mein Statement_Sideletter sollen der Vergangenenheit angehörenVergangenheit angehören” – ein Visual auf seinem Facebook-Profil. Verbunden mit einem 2.000 Zeichen langen Statement – gerade 150 Zeichen widmen sich der eigene Verantwortung der Grünen, knapp, dafür unprominent mitten im Text, möglichst unauffällig.

Die (defensive) Botschaft bleibt: Wir waren’s nicht! Eigentlich schuld ist Sebastian Kurz. Eigentlich haben wir das beste herausgeholt. Immerhin versteht Kogler “alle, die finden, wir Grünen sind in der Form hinter unseren eigenen Ansprüchen zurückgeblieben – das sehe ich auch und das tut mir leid.”

Die Grünen folgen damit Frames aus der Vergangenheit, die sich schon bisher nicht bewährt haben

  • [Wir Grünen] sind leider nur [die Kleineren], da muss man [realistischerweise] schon sehen, dass wir [nicht alles erreichen] können. Trotzdem haben wir [David gegen Goliath] [viel erreicht], z.B. das Klimaticket.
    Inhaltlich mag das seine Richtigkeit haben. 37,5% vs 13,9% ist ein klarer Unterschied. Warum sich die Grünen aber zwei jahre lang (und auch jetzt) als [leider schwach] framen, und damit Erfolge z.B. von Klimaschutzministerin Gewessler eher zu Zufallstreffern machen, geht mir nicht ein.
  • [Sebastian Kurz] = [Schuld]. [Wir] hätten es ohnehin [anders] gemacht, aber mehr war nicht herauszuholen.
    Ganz bestimmt waren die Verhandlungen extrem schwierig. Alle VerhandlerInnen haben meinen Respekt für ihre Beharrlichkeit. Man muss sich allerdings für eine einzige Kommunikation entscheiden: Entweder haben wir “das Beste aus beiden Welten” oder leider doch eher den unbefriedigenden Kompromiss, weil mit Kurz nun mal nicht mehr gegangen ist. Beides gleichzeitig klappt kommunikativ nicht, wie man sieht.
  • Dass [die anderen] es [genauso machen] und solche Hinterzimmer-Vereinbarungen [normal] sind, ist das dritte wesentliche Framing vieler Grüner dieser Tage. Was das bedeutet? Klarerweise, dass [Grüne Prinzipien] [genauso wertlos] sind, wie jene der andern Parteien, dass [Politik] insgesamt ein [verlogenes Geschäft] für HeimlichtuerInnen und VertuscherInnen ist. Danke für den Hinweis, dann kann ich ja eh auch jemand anderen wählen. Oder gleich meinen Glauben an die Demokratie im Keller verstauen.

Beispiel Johannes Rauch. Der Vorarlberger Grünen-Chef, selbst Teil des damaligen Verhandlungsteams, versucht es erst gar nicht mit Selbstkritik. Wer die Sideletter bedenklich findet, hat Politik nicht verstanden. Ein Koalitionspapier regle nicht, wie die neuen PartnerInnen mit allfälligen unterschiedlichen Positionen und Konflikten umzugehen gedenken. Also mit “Machtfragen” . “Werden diese Fragen nicht vorab geklärt, könnte der größere Partner aufgrund seines höheren Gewichts jedes Detail, von dem im Koalitionsvertrag nicht die Rede ist, im Alleingang bestimmen. Damit würde sich aber jegliche Zusammenarbeit ad absurdum führen: daher ‘Sideletters'”, so Rauch in seinem Blog.

Außerhalb und innerhalb der Politik

“Außerhalb der Politik nennen sich diese ‘Sideletters’ übrigens Nebenabsprachen und sind dermaßen normal und üblich, dass niemand je davon spricht, geschweige denn sie zu einem Skandal hochstilisiert.” Kann bitte jemand Johannes Rauch sagen, dass er sich aber eben “innerhalb der Politik” bewegt? “Wer behauptet, in Verhandlungen gehe es immer nur um Sach-, nie um Personalfragen, leidet unter mangelnder politischer Erfahrung.” Und genau wer behauptet so etwas? Was soll diese Ablenkung von der Frage, wie Grüne in Verhandlungen und im politischen Alltag mit heiklen Themen und inoffiziellen Absprachen umgehen. Ob sie solche zulassen. Wie weit eigene abstrakte politische Ziele später auch im Alltag konkrete Gültigkeit haben. Wieweit gerade Grüne ihre politischen Entscheidungen demokratisch kontrollierbar machen. In Summe: Ob die Grünen ihre Worte auch leben, [walk your talk] und [talk your walk] eben.

Dass “Vertrauen in heiklen Bereichen durch Vertraulichkeit entsteht” und dass das “die zurzeit ungeschriebenen Gesetze von Macht und Politik (sind), ob man sie mag oder nicht”, ist eine These von Rauch, nicht mehr. Von Grünen erwarte ich mir, dass sie damit Erfahrung sammeln wollen, ob nicht auch Offenheit das “dünne Eis des Vertrauens” stärken kann.

Während Rauch polemisiert, versucht sich die Wiener Landesorganisation nicht zu positionieren und dafür die eigenen Stärken zu spielen. “Bürgermeister Ludwig lässt mit Mega-Polizeieinsatz die Bagger auffahren und beendet den Klimaprotest.” Freilich, auch das ist wichtig für die Grünen. Die beiden Landesspitzen Judith Pühringer und Peter Kraus schweigen auf ihren eigenen Facebook-Profilen und überlassen es den WählerInnen, die Geschehnisse einzuordnen.

Andere, wie die bekannt widerständige Wiener Landtagsabgeordnete Viktoria Spielmann, versuchen wenigstens Selbstkritik. Zwar „ist (es) wohl nicht nötig zu erwähnen, dass nicht die Grünen dieses Spiel erfunden haben. Dennoch sind wir als Grüne Alternative vor langer Zeit angetreten, um es anders – um es besser – zu machen. Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser politische Anspruch eine Stärke der Grünen ist und wir genau deshalb entschieden für Transparenz, für ein Ende der Hinterzimmer Politik und einen anderen Politikstil eintreten müssen – vor allem als Regierungspartei.“

Beispiele aus der Bundesregierung: Leonore Gewessler hält sich heraus. Ein Versuch, als “Fachministerin” und nicht als Grüne Politikerin durch die Krise zu kommen? Könnte strategisch aufgehen. Justizministe rin Alma Zadić geht dafür das Risiko ein und hält ihren  Rücken für die Partei hin, indem sie etwas überhastet eine Reform bei Postenbesetzungen in der Justiz ankündigt. Inhaltlich freilich von enormer Wichtigkeit. Jetzt aber mit dem Beigeschmack einer Anlass-Gesetzgebung.

Was ich nicht entdecken kann, ist eine öffentliche – LAUTE – Anerkennung, dass Grüne WählerInnen zurecht (!) enttäuscht und zornig sind.

Zum Schluss eine etwas unscharfe Bitte

Ich halte die Frage, wie weit eigene abstrakte politische Ziele im Alltag tatsächlich Gültigkeit haben gerade jetzt für extrem wichtig. Wie weit gerade Grüne ihre politischen Entscheidungen demokratisch kontrollierbar machen. In Summe: Ob die Grünen ihre Worte auch leben, “walk your talk” eben. Bitte macht euch auf diesen schwierigen Weg. Nicht weil er gut für die Grünen ist, um bei den nächsten Wahlen zu gewinnen. Sondern weil es ein wichtiger menschlicher Prozess ist, der die österreichische Demokratie weiterbringen kann.

Das derzeitige offizielle Framing deckt diese Fragen zu (“Frames hide and highlight”).
Und das halte ich für bedenklich.

Sondieren – Koalieren – Flanieren

[Sondieren]
[Verhandeln]
[Politik]

Die erste Runde in der Phase der Koalitionsbildung geht nach Punkten an Sebastian Kurz. Er hat sich mit seinem Wording, seinem Framing und seinem Tempo durchgesetzt.

Wenn der Standard zum Beispiel titelt: “Türkis-grüne Sondierungen: Geheime Gespräche und verschlüsselte Botschaften”, dann macht das für die Grünen verschiedene Probleme auf:

[Sondieren] ist ein politischer Kunstbegriff aus der Zeit vor Schwarz-Blau I. Erst lange sondieren, dann den anderen fest über den Tisch ziehen. Bestenfalls gibt es eine Art Zwischenstand. Zeit vergeht. Viele Möglichkeiten der medialen Selbstdarstellung, vor allem für den stärkeren Player. Für Kurz.

Wer aber [verhandelt], hat anschließend ein Ergebnis vorzuweisen. Verhandelt wird zwischen Gleichen. Wichtig auch der Zeitfaktor. Es tut sich eine Schere auf zwischen der Dringlichkeit Grüner Anliegen und einem gemächlich sondierenden Verhalten. [Politik] = [wichtig] ≠ [ewig warten]. Siehe Vorarlberg: Dort haben sie von Gesetzes wegen vier Wochen Zeit. Und aus. “Sondieren – Koalieren – Flanieren” weiterlesen

Werner Koglers Rat an die SPÖ

Sozialdemokratie muss „rudern statt sudern“

[strategic framing]
[Overton-Fenster]
[Inhalt]
[SPÖ]
[Grüne]
[linke Erzählung]
[Nationalratswahl 2019]

Es sind wenige Sätze, die die Situation der SPÖ nach der vergangenen Nationalratswahl beschreiben:

Erstens: „Es waren die richtigen Themen, die wir gesetzt haben, weil sie die Antworten auf die Probleme der Menschen sind. Und es werden auch weiterhin die richtigen Themen sein.“

„Wir werden diesen Weg der Menschlichkeit (…) weitergehen – für die Österreicherinnen und Österreicher, für alle, die in diesem wunderschönen Land leben.“ Das twittert SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner am Wahlabend.

Zweitens: „Rudern statt sudern!“, Werner Koglers Motto nach dem Rauswurf aus dem Parlament und nach seiner Wahl zum Grünen Bundessprecher.

Drittens: „Nicht viele Menschen wissen, wofür die Sozialdemokratie überhaupt steht.“ (Gerhard Zeiler im ORF-Runden Tisch nach der Wahl.

Zusammenfassung:

Die SPÖ hat in den letzten Wochen (endlich wieder) auf ein definitiv linkes Profil gesetzt: Mieten runter, Löhne rauf, Jobs, von denen man leben kann.

Pamela Rendi-Wagner hat bewusst und offensiv [miteinander], [gemeinsam] und [stark] verknüpft. Das sind die Bausteine der sozialdemokratischen Zukunft.

Jetzt ist es Zeit, diese Begriffe zu einer gesamthaften Erzählung zu verknüpfen. Und diese Erzählung konsequent nach außen zu tragen. Den öffentlichen Diskurs zu suchen. Den öffentlichen Diskurs zu verändern, das Overton-Fenster zu verschieben.

Overton Fenster

Rudern eben. Mühsam im gemeinsame Inhalte und Positionen ringen. Ausverhandeln, was die Sozialdemokratie ausmacht. Die Grünen haben diesen Prozess in den vergangenen anderthalb Jahren aufgenommen. Sie sind nicht fertig, aber schon recht weit fortgeschritten.

Ebenfalls wichtig, aber erst dahinter, stellen sich all die strategischen Fragen, die gerade mit solcher Begeisterung debattiert werden. Minderheitsregierung dulden? Mehr Frauen? Verjüngung? Mehr Kompetenzen für die Chefin? Alles wichtig. Aber ohne nachvollziehbare und konsequent nach außen getragene Erzählung von einem sozialdemokratischen Österreich kann die SPÖ damit nur eine leere Hülle aufbauen. Und leere Hüllen sind extrem fragil…

Doch noch ein stragegisches PS: Mittelfristig bringts recht wenig, wenn sich Grün und Rot wechselweise die WählerInnen abspenstig machen. So wirds nie was mit der linken Mehrheit…

Sarah Wiener – eine kurze Erklärung

Was sagt die Kandidatur von Sarah Wiener für die EU-Parlamentswahl über die Grünen? Drei erste Erklärungsansätze.

[Grüne]
[Sarah Wiener]
[Politikverständnis]
[Framing]

Die Grünen – relevante AkteurInnen innerhalb der Grünen Bundesspitze, des Bundesvorstands – wollen also mit der Starköchin Sarah Wiener den zweiten Listenplatz für die EU-Wahl prominent besetzen. Ich habe mit der Vorgehensweise mehrfach massives Bauchweh.

1) Politikverständnis
Die Grünen treten mit dem ständigen Versprechen an, Politik anders zu machen und ernstzunehmen. Dieses Versprechen ist aber nur so lange glaubwürdig, wie man die eigenen Prinzipien, die eigenen Grundwerte, die eigene politische Haltung auch in Krisenzeiten ernst nimmt. Das Aufstellen einer Fernsehköchin macht Politik zu einem Planspiel, zu einem Match der besseren StrategInnen. Nicht zu einem Durchsetzen der Besseren Ideen. Die Grünen treten offiziell als jene an, die die bessere Politik machen. Kompetenz vor Prominenz. Das passt nicht zusammen.

2) strategische Fehleinschätzung
Die Grünen brauchen keine Promi-Kandidatin aus Film, Funk und Fernsehen, die möglichst allen Menschen bekannt ist. Die Grünen brauchen KandidatInnen, die den richtigen Menschen bekannt sind und bei den richtigen Menschen beliebt sind. Nämlich bei einer erweiterten Zielgruppe. Nicht wichtig ist, ob meine Schwiegermutter oder die Hausmeisterin drüben auf der Zweierstiege sie kennen. Die wählen nämlich eh nicht grün. Die Promi-Kandidatin, die 87 Prozent der ÖsterreicherInnen gut finden, aber leider nicht wählen, bringt weniger, als die richtige Kandidatin, die den Grünen 15 Prozent der Stimmen bringt.

Die Grünen werden laut WählerInnenanalysen weniger wegen der Person der/des SpitzenkandidatIn gewählt als wegen ihrer Inhalte. Wenn schon Promi, dann ausgewiesen politisch. Heini Staudinger, Christian Felber oder Johannes Gutmann sind Beispiele für solche (eine geeignete Frau fällt mir echt nicht ein) und nein, ich spreche mich nicht für deren Kandidatur aus.

3) Die Basisdemkratie kippt
Ich finde es höchst an der Zeit, dass die Grünen ihre Entscheidungsprozesse überarbeiten. Ich halte es zum Beispiel für richtig und wichtig, dass der Bundessprecher oder eine Landessprecherin strategischen Einfluss auf die Listenerstellung nehmen kann. Das Statut möge für die Zukunft geändert werden. Derzeit ist es aber nicht so vereinbart.

Derzeit gilt: Es möge kandidieren, wer will. Und die Basis möge entscheiden.
In diesem Fall der BUKO. Aber. Wenn Werner Kogler mit einer einzigen ausgesuchten Kandidatin vor die Presse tritt, weil er sie für strategisch wichtig hält, bricht er politische Versprechen der Grünen. Solange die Grünen “Basisdemokratie” als quasi unverhandelbaren Grundwert haben, geht es einfach nicht, dass der Chef eine einzelne Kandidatin dermaßen heraushebt. So sehr ich Koglers Drang und die strategischen Überlegungen verstehe.

4) Fazit
Ich will als Wähler ernstgenommen werden. Ich will, dass das Framing von Politik besser wird. Wer glaubt, mich mit einer TV-Köchin zu ködern, zeigt mir keinen Respekt. Ich will sehen, dass Parteien Politik ernstnehmen. Das Grüne Setzen auf Sarah Wiener zeigt mir diesen Ernst nicht.